Es klang überspitzt, als „Smombie“ – ein Kofferwort aus den Begriffen „Smartphone“ und „Zombie“ – 2015 zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde. Doch wenn man heutzutage nachts durch die Straßen geht und Pokémon-GO-Spieler mit gesenktem Kopf einsam durch die Straßen laufen sieht, wirkt der Begriff passender denn je. Auch in öffentlichen Verkehrsmitteln lassen sich immer häufiger Fahrgäste beobachten, die so sehr in ihr Smartphone vertieft sind, dass sie nicht mitbekommen, wenn eine alte Frau vergeblich einen Platz sucht oder der Zielbahnhof schon längst erreicht wurde. Aber auch wenn sich Freunde nicht mehr unterhalten, wenn sie sich treffen, weil ein abwesender Dritter oder eine App gerade spannender ist, der Kinofilm vom Handyklingeln gestört oder die Sicht auf’s Konzert von einem iPad verdeckt wird, fällt das Smartphone oft negativ auf. Wenn der Griff zum digitalen Begleiter krankhaft wird, leiden aber nicht nur soziale Beziehungen, sondern auch unsere Gesundheit.
Süchtig: Wenn der Griff zum Handy den Flow unterbricht
Foto: Texting (Seika/Flickr, CC BY 2.0)
Über 45 Millionen Deutsche besitzen ein Smartphone – Tendenz steigend. Im Schnitt zücken sie alle 12 bis 18 Minuten zu ihrem digitalen Alleskönner – zum Teil unabhängig davon, ob tatsächlich eine Nachricht eingegangen ist oder nicht, berichtete der Informatikprofessor Alexander Markowetz. Zusammen mit dem Psychologen Chistian Montag brachte er 2014 eine App zur Messung des eigenen Smartphone-Verhaltens heraus, die über 300.000 Mal heruntergeladen wurde, nachdem mehrere Medien darüber berichtet hatten. „Wir wussten bis dahin nicht, wie sehr Smartphones unseren Alltag fragmentieren“, so Markowetz.
Das ständige Klingeln, Virbrieren oder Aufleuchten des Telefons lenkt uns immer wieder von unserer eigentlichen Arbeit ab. Es könnte ja wichtig sein. Wir verlieren dadurch die Fähigkeit, einen Flow – also einen Zustand, in dem wir produktiv an einer Sache arbeiten – zu erreichen und werden dadurch unproduktiv. Der Überfluss an Informationen erschöpft die Kapazitäten unseres Gehirns. Betroffenen fällt es aber auch schwer, in der Freizeit lange konzentriert ein Buch zu lesen oder jemandem längere Zeit zuzuhören. Da uns der Erfolg unserer eigenen Produktivität glücklich macht, werden wir durch die ständigen Unterbrechungen langfristig auch unglücklicher.
Und nicht nur wir: Die Zeit am Smartphone kommt den Nutzern oft kürzer vor, als sie es in Wirklichkeit ist. Die meisten Menschen unterschätzen ihr Nutzungsverhalten daher deutlich. Das führt so weit, dass mittlerweile jeder vierte Deutsche eifersüchtig auf die Zeit ist, die der Partner mit dem Smartphone verbringt. Extensive Smartphone-Nutzung soll bereits Trennungen und sogar Scheidungen nach sich gezogen haben.
Digitaler Stress
Verstärkt wird das Problem noch durch digitalen Stress, den wir uns oft selber machen: Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov für die Deutsche Presse-Agentur ergab, dass fast jeder zweite Erwerbstätige in Deutschland mindestens einmal pro Woche dienstliche E-Mails liest, wenn er schon Feierabend hat. Selbst im Urlaub schaut jeder Dritte mindestens einmal in seine E-Mails, woran sich häufig auch die Urlaubsbegleitung stören dürfte. Jeder Fünfte wird zudem mindestens einmal pro Woche nach Feierabend angerufen. Weitere 28 Prozent seltener.
Auf der Jagt nach Glücksgefühlen
„Die […] Unterbrechungen [werden] fast nur durch WhatsApp und Facebook verursacht werden, also durch soziale Medien“, so die Erkenntnisse aus Markowetz App. Doch „Wir schauen regelmäßig in unseren E-Mail-Account, nicht weil dort tatsächlich immer eine wichtige Nachricht ist, sondern weil sie dort sein könnte.“ Auf dem Smartphone warten nicht nur Nachrichten, sondern auch Neuigkeiten und Likes von unseren Freunden. Wie Drogen beeinflussen Sie das Belohnungszentrum in unserem Gehirn. Jede Nachricht, jedes Like und jedes neue Pokemon an der nächsten Ecke geben uns einen Kick, von dem wir nicht genug bekommen können. Daher suchen wir bis zur totalen Erschöpfung nach immer weiteren Reizen und verlieren dabei den Bezug zur realen Welt. Dabei erwarten uns jenseits des Displays viel größere Kicks: „Wenn ich mich nacheinander über 150 Katzenvideos freue, die ich mir im Minutentakt anschaue, dann müsste ich ja ganz viel Glück akkumuliert haben. Wahrscheinlich wird man aber merken, dass diese Rechnung so nicht aufgeht. Sondern dass mit einem einzigen, größeren Glückserlebnis viel mehr erreicht ist“, ergänzt der Professor.
Ab wann gilt man als süchtig?
In einem schriftlichen Interview mit Apfelpage erklärt Diplom-Psychologe Dr. Kai W. Müller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, wann die Smartphone-Nutzung zur Sucht wird.
Apfelpage.de: Gibt es eine zeitliche Definition, ab wann man als „süchtig“ gilt?
Dr. Müller: „Ein Zeitkriterium ist kein verlässlicher Indikator für ein Suchtverhalten – natürlich stellt sich die Frage nicht, wenn jemand 12 und mehr Stunden ausschließlich mit dem Handy beschäftigt ist, aber dies sind dann ja eher Extremfälle.
Zur diagnostischen Abklärung eines Suchtverhaltens zieht man daher weitergefasste Kriterien heran, hierzu zählt beispielsweise die Frage, in wie weit eine Person in der Lage ist, ihr Nutzungsverhalten noch bewusst zu steuern oder in wie weit bereits von einem Kontrollverlust (Handynutzung entgegen der eigenen Absicht, Nutzung in unpassenden oder gar gefährlichen Situationen, Verlust des Zeiterlebens während der Nutzung […]) gesprochen werden muss.
Auch entzugsähnliche Symptome zählen zu diesen Kriterien, also das Erleben negativer Gefühlszustände, Unruhezustände oder gesteigerter Gereiztheit oder extremer Unsicherheit, wenn das Handy nicht genutzt werden kann. Die Fortführung des Konsums trotz damit verbundener negativer Konsequenzen (z.B. Konflikte wegen der Nutzung in der Familie, mit dem Partner oder Freunden, Leistungsabfall auf Grund verminderter Konzentrationsfähigkeit und erhöhter Ablenkbarkeit in der Schule, dem Studium, dem Beruf, gesundheitliche Folgeerscheinungen auf Grund der Nutzung, z.B. verminderter oder gestörter Schlaf [oder eine Sehnenscheidenentzündung vom vielen Tippen] etc.) ist ein weiteres diagnostisches Merkmal. Ein beginnender und dann rasch fortschreitender Verlust an Interesse für alternative Betätigungen stellt noch ein wichtiges Kriterium dar. Betroffene ziehen sich immer mehr aus Lebensbereichen, die ihnen zuvor Freude bereitet haben (z.B. Freizeitbeschäftigungen) zurück oder schränken diese zu Gunsten der Handynutzung stark ein. Diese Kriterien stellen lediglich vier Beispiele dar. Grundsätzlich zieht man zur Diagnostik ganz ähnliche Kriterien heran, wie sie auch für eine substanzgebundene Abhängigkeit, als z.B. Alkoholabhängigkeit definiert sind.“
Apfelpage.de: Ist häufiges Draufschauen gleichzusetzen mit einer Sucht?
Dr. Müller: „[…] Das kann sein, muss aber nicht. Dieses sog. Checking-Verhalten stellt in jedem Fall ein Anzeichen für ein starkes […] Involvement in Bezug auf die Handynutzung dar. [Es] sollte jedoch nicht automatisch mit einem Suchtverhalten gleichgesetzt werden.
Entscheidend ist, zu schauen, wie extrem dieses Checking-Verhalten ausfällt – das ist natürlich auch ein Stück weit situationsabhängig. Wenn eine wichtige Nachricht, oder ein Update erwartet wird, schaut man selbstredend häufiger auf das Handy, das ist nachvollziehbar und durchaus auch in diesem Rahmen funktional. Kritisch wird es, wenn das Checking-Verhalten auch dann häufig stattfindet, wenn eigentlich kein großer Anlass dazu besteht.
Etwas losgelöst von der Sucht-Debatte gibt es übrigens mittlerweile erste Studien darüber, dass ein hochfrequentes Checking-Verhalten auch ein Indiz für „Digital Stress“ sein kann. Insbesondere im Zusammenhang mit Kommunikationsanwendungen via Handy erleben viele Nutzer die subjektiv überbewertete Notwendigkeit, immer und überall erreichbar zu sein und möglichst zeitnah auf eingehende Nachrichten (auch ganz unwichtige) Bezug zu nehmen. Im Hintergrund dieses subjektiven Drucks steht die Angst, in sozialen Interaktionen nicht präsent genug zu sein, Wichtiges zu verpassen und so im Endeffekt sozial ausgegrenzt zu werden oder doch zumindest soziales Prestige einzubüßen. Bei diesen Menschen mit einem hohen Level an empfundenem Digital Stress zeigen sich starke Überlastungssymptome, also Kennzeichen, wie man sie auch aus dem Bereich der depressiven Erkrankungen, der Angsterkrankungen und dem Burnout kennt.“
Apfelpage.de: Gibt es eine berufliche Abgrenzung zur Handysucht?
Dr. Müller: „Von einer Sucht im engeren Sinne sprechen wir genaugenommen nur dann, wenn sich das unkontrollierte und exzessive Verhalten losgelöst von einer Funktionalität abspielt.
In diesem Zusammenhang ist damit gemeint, dass ein Angestellter, der sich auch nach Feierabend nicht von seinem Handy distanzieren kann, um bloß keine Nachricht von Kollegen oder vom Chef oder eingehende Mails mit berufsbezogenem Inhalt zu verpassen, nicht als süchtig zu klassifizieren ist, sondern eher unter die oben beschriebene Kategorie des Digital Stress in puncto Berufsleben fallen würde – was freilich auch nicht gesund ist.
Von einem Suchtverhalten hingegen würden wir sprechen, wenn die Person die Handynutzung über alles andere, also etwa auch den Beruf, das Freizeit- und Familienverhalten stellt und sich hieraus in verschiedenen Bereichen Probleme ergeben.“
Apfelpage.de: Welche effektiven Maßnahmen kann man ergreifen, um der „Versuchung Handy“ zu widerstehen?
Dr. Müller: „Zunächst einmal für sich festhalten, dass das Handy ja nichts Böses ist, sondern genaugenommen ein Gerät darstellt, dass uns das Leben erleichtern und bisweilen auch unterhaltsamer machen soll.
Wichtig ist, die Kontrolle über das Nutzungsverhalten zu behalten und nicht sein Leben um die Handynutzung herum aufzubauen. in diesem Zusammenhang kann es sich empfehlen, für sich selbst etwa nutzungsfreie Zeiträume zu definieren oder – im kleineren Rahmen – dafür zu sorgen, dass das Handy nicht immer in Reichweite liegen muss; man sollte sich selbst davon überzeugen, dass man auch ohne Handy mal zum Supermarkt laufen kann und dass es auch während der Mahlzeiten oder der Schlafenszeit nicht dazu beiträgt, das Leben zu erleichtern, sondern hier eher eine unnötige Ablenkung von wesentlicherem darstellt.“
Auf den praktischen Begleiter im Alltag muss also niemand komplett verzichten. Gegen das Handy-Übergewicht in unserem Alltag empfiehlt aber auch Professor Markowetz die digitale Diät: Absprachen mit der Hand voll Personen, auf die der Großteil der Kommunikation entfällt – also den Chef, den Partner, Eltern, Kinder und beste Freunde – können „das Kommunikationsaufkommen um 30 bis 50 Prozent [zu] senken“. Nur so können wir unserem Gehirn auch mal eine Pause von der Informationsflut gönnen, bevor es darin ertrinkt.
Radikal dagegen klingt die Empfehlung von James Hamblin, Redakteur beim US-Magazin The Atlantic, der allen Inhalten auf seinem Telefon durch Graufilter den Reiz nimmt. Wir empfehlen dagegen, zu überlegen, ob einige Apps nicht auf das Recht, die roten Kennzeichensymbole zu verwenden, verzichten können und sich die digitale Diät auf diese Weise zu erleichtern.
Wer jetzt noch nicht genug hat, dem sei der Erfahrungsbericht einer Woche ohne Smartphone empfohlen. Allen anderen empfehlen wir nach Peter Lustig: „abschalten!“
16 Gedanken zu „Interview zur Handysucht: Wie uns das Handy krank & einsam macht“
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