Kommentar: Die Widget-Fäden ziehen sich weit in die Vergangenheit und haben ihren Knotenpunkt in einem ganz anderen Nähkästchen, als man meint. Nein, nicht Android ist der glorreiche Erfinder des grafischen Fensters – auch wenn sie sich schon immer selbst gerne damit rühmten und feierten.
Der Begriff „Widget“ ist ein Zusammenschluss aus zwei Wörtern. Windows und Gadget – kurz Widget. Seinen Ursprung hat das grafische Objekt aus dem Projekt Athena, welches 1983 bis 1991 von Digital (Digital Equipment Corporation), dem MIT und IBM geführt wurde. Somit ist das Widget prinzipiell älter als jedes Mac OS, iOS, Android oder Windows. Das Widget selbst ist eine kleine Komponente des grafischen Fenstersystems. Es ist ein Fenster, welches in einem sichtbaren Bereich genutzt werden kann. Ein unsichtbarer Bereich bildet die Speicherkomponente des Fensters und ermöglicht ihm das Verändern/Aktualisieren des Fensterinhalts. Apple erkannte das Widget für sich und schaffte es unter Mac OS 1.7 ein. Dashboard war der zentrale Platz für die Fenster, die Miniprogramme beherbergten. Heute ist dieser Knotenpunkt umgezogen und findet sich unter OS X in der Benachrichtigungszentrale wieder – ein Ort in dem Widgets in einer Timeline weiterleben.
iOS wurde mit den Bausteinen und der Einfachheit von OS X konstruiert. Viele Jahre sind seit dem Start vergangen und viele Jahre verstrichen. Jahre in denen iOS und Android sich einen erbitterten Kampf lieferten. Widgets waren das Non-Plus-Ultra der Androidabteilung und ein Verkaufsargument für gute Software. Apple setzte nie auf dieses Pferd und ritt in seinem langsamen und sicheren Trab weiter durch seine Softwareentwicklung. Die Benachrichtigungszentrale mit iOS 6 zeigte aber, dass man der mobilen Plattform neuen Raum schaffen möchte – einfache und gekoppelte Wischgesten bestätigten dies gleichermaßen. Mit einem Wisch vom oberen Bildschirmrand gelangt man in eine Übersicht an Meldungen. Mails, Nachrichten, Kalendereinträge, Erinnerungen oder auch App-Benachrichtigungen waren übersichtlich und zeitbasiert geordnet und aufgelistet. Die iOS-Timeline, die schnell Aktualisierungen und Neuigkeiten in einem scrollbaren Fenster aufzeigte.
iOS 7 war der klare Neubeginn der mobilen Plattform. Hauptmerkmal war zunehmend das neue Softwaredesign, doch gerade das Fundament wurde im Untergrund komplett saniert und ausgebaut. So können Applikation seitdem auch im Hintergrund Aktivitäten ausführen, ohne manuell geöffnet und aktualisiert zu werden. Die automatische Abo-Aktualisierung der Podcast-App im WLAN und das Synchronisieren von iCloud-Datensätze durch einen „hidden Push“ nur als Beispielglieder einer langen Kette. iOS 7 war ein wichtiger Schritt für iOS 8. Erst dadurch war auch das Umsetzen von grafischen Zusatzfenstern denkbar. Denn mit der neuen Plattformversion konnten fortan auch Widgets ihren Platz in der Benachrichtigungszentrale einnehmen, im Hintergrund agieren und somit als selbstständige Umgebung laufen.
Seit iOS 8 ist es App-Programmierern somit erlaubt, einen bestimmten Funktionsumfang ihrer App in ein Widget auszugliedern. Kein Wunder, dass es eine regelrechte Welle an App-Aktualisierungen gab, die alle ein Ziel hatten – mit einem Widget in die Benachrichtigungszentrale einziehen. Nicht nur Entwickler wussten und wissen bis heute teils nicht, wieso Apple allerdings ihre Widget-Funktion ablehnt. Apple selbst weiß es aber allen Anschein selbst noch nicht und hat bis heute keine klare Definition an den Tag gebracht. Eine Taschenrechner-App darf somit nicht als Widget arbeiten, da Widgets keine Rechenarbeiten durchführen dürfen. Seltsam – arbeitet das ganze System doch permanent an Rechenarbeiten. Einser und Nullen hier als Denkanstoß. Und dann gibt es noch den Anteil an Software, der Spiele als Widget fungieren lässt und diese in der Benachrichtigungszentrale spielbar macht. Die Widget-Einbindung ist ein Katz- und Mausspiel mit Apple. So wird die eine grafische Fenstererweiterung durchgewunken und die andere gnadenlos und stur abgelehnt. Das Widget-Dilemma ist perfekt.
Die Frage liegt mittlerweile klar auf der Hand. „Welchen Mehrwert hat überhaupt ein Widget?“ und weiter noch „Warum hat es einen Mehrwert?“.
Sein iOS-Gerät zu entsperren, eine App aufzurufen und den Funktionsumfang einer bestimmten App zu nutzen sehe ich teilweise als klaren Umweg an. Dieser Gang dauert gefühlt teils länger, als die Operation, die man mit der App selbst ausführen will. Daher möchte man in gewissen Szenarien schnell und einfach an die App bzw. den Funktionsumfang der App gelangen. Einen Grundbaustein und somit einen bestimmten Funktionsbaustein in ein schnell erreichbares Widget zu gliedern ist daher verständlich und nachvollziehbar. Doch der Funktionssinn muss gegeben sein und somit ist ein Widget nicht das Allheilmittel von Softwareerreichbarkeit. Spotlight unter iOS zeigt heute ganz klar, dass es andere Wege gibt, die Daten schneller vorgelegt zu bekommen. Alle Apps als Widget abzulegen ist auf kurz oder lang definitiv der gleiche Schmerz wie zuvor – nur an einem anderen Ort. Denn sinnloses und ellenlanges Scrollen durch eine Widget-Timeline sieht man jetzt schon zu genüge. Will man also für alles ein Widget nur weil es machbar wäre? Also wieso einer News-App ein Widget verpassen, welches die letzten drei Meldungen ausführlich zum Lesen anbietet und somit Unmengen an visuellen Platz belegt? Die Informationen liegen in der News-App selbst – übersichtlich und klar strukturiert und sind demnach wesentlich angenehmer aufzunehmen, als in einer Widgettimeline. Begründet die schnelle Informationswahrnehmung diese Bequemlichkeit der Selbstagierung oder ist das schnelle Widget für Zwischendurch am Ende nur eine Modeerscheinung?! Hier kann man sich streiten und debattieren – und doch findet sich keine klare Antwort. Denn am Ende entscheidet der Benutzer selbst.
iOS fehlt vieles, doch Widgets waren, um ehrlich zu sein, das letzte was wirklich nötig gewesen wäre. Mit definitiven Ausnahmen – denn alles was das Steuern von anderen Punkten angeht, wirkt hier zentral gut aufgehoben und klar strukturiert. Die Hue-App von Philips bietet genau so eine Widgetfunktion an und lässt dadurch die hausinternen Lampen schnell ein- und ausknipsen. Hier erkennt man den praktischen Mehrwert des grafischen Zusatzfensters. Auch Netatmo zeigt mit seinem Widget, dass es funktionell alle wichtigen Daten der heimischen Wohnung und dem Wetter auflisten kann. Widgets sollte man vielleicht nicht all zu viel Aufmerksamkeit schenken und sie nur bedacht und funktionell auswählen und einsetzen – um am Ende nicht den Überblick zu verlieren und eine grandiose App irgendwann als nervende App in der Benachrichtigungszentrale anzusehen. Widgets wirken verlockend und anfangs interessant. In der Praxis zeigt sich aber definitiv schnell das Gegenteil. So ist es mehr ein Horten von Zusatzfenstern, als das Erweitern und Vereinfachen des täglichen Workflows. Das Widget als grandiose Neuerung anzusehen – das kann ich nicht. Extensions ist da schon mehr ein Gebiet, über das man sich strukturierte Gedanken machen kann und sollte. Die Apple Watch hier als Denkanstoß.
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25 Gedanken zu „Das Widget-Dilemma“
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