Facebook und Twitter sollten ihre Live-Video-Funktion einmal gründlich überdenken, wie nicht erst die Aufnahmen aus Nizza gezeigt haben. Wollen wir das Netz wirklich brutaler machen? Ein Kommentar von Robert Tusch.
Minnesota, Donnerstag, der 07. Juli 2016. Ein Polizist schießt bei einer Fahrzeugkontrolle auf einen schwarzen Mann. Seine Freundin zückt das Handy, öffnet Facebook und streamt live, wie er verblutet. Die Waffe des Polizisten ist noch auf ihn gerichtet. Im Krankenhaus später erlag der Mann seinen Verletzungen.
Frankreich, Mai 2016. Eine 19-jährige Altenpflegerin kündigt auf Periscope, dem Live-Video-Service von Twitter, ihren Selbstmord an. Die Nutzer reagieren mit Sätzen wie „Wir freuen uns darauf“ oder „Das ist super“. Wenig später stürzt sich das Mädchen vor einen Zug.
(Bild: Shutterstock / Suradach)
Chicago, März 2016. Ein Mann postet ein Live-Video, auf dem mehrere Schüsse fallen. Plötzlich fällt das Handy zu Boden. Man sieht, wie ein weiterer Mann mit gezückter Waffe vorbeiläuft und willkürlich Schüsse abfeuert.
Und jetzt Nizza. Live-Videos, die den Kühl-Lastwagen zeigten, wie er im Zickzack durch die feiernde Menschenmenge raste. Zu hören waren dabei die Körper der Menschen, die von der Wucht des LKWs erfasst wurden.
Wie weit soll es denn noch gehen? Millionen Mal werden solch brutale Videos geklickt – und geteilt. Sie verbreiten sich schnell und unkontrolliert. Ihre Urheber erlangen unglaubliche Aufmerksamkeit. Und das alles live. Gerade in dem Moment, in dem es passiert.
Kaum zu kontrollieren
Der Trend der Live-Videos, auf den nicht nur Facebook und Twitter, sondern auch Google aufgesprungen ist, bleibt ein stark umstrittener. Natürlich haben die Videos ihre Vorteile, weiß auch Social-Media-Experte Felix Beilharz. „Ich gehe davon aus, dass Live-Streaming auf Facebook in Zukunft für viele Medien und Unternehmen, aber auch Privatpersonen zu einer wesentlichen Content-Art wird“, erzählt er im Gespräch. Vor allem Unternehmen können von der neuen Content-Art profitieren. „Die Vorteile liegen natürlich in einem noch engeren Kontakt zum Kunden“. Auch Facebook-CEO Mark Zuckerberg weiß das zu schätzen: „Wer in Echtzeit interagiert, ist persönlicher verbunden“, so Zuckerberg, als er die Funktion für alle 1,6 Milliarden Nutzer des Netzwerkes Anfang des Jahres freischaltete.
Wie groß diese persönliche Nähe ausfällt, konnten wir bereits mehrfach sehen: Ein ermordeter Schwarzer in den USA, prahlende Terroristen in Frankreich und ein Anschlag in Nizza, der live übertragen wurde. Tod vor einem großen Publikum.
Was Facebooks Live-Funktion also bisher entlarvte, ist vor allem eines: Fehlende Kontrolle über die Inhalte des Netzwerkes. Ausgerechnet in Zeiten, in denen mehr Kontrolle notwendig wäre.
(Bild: weedezign / Shutterstock.com)
Live ist eben live
Live-Videos schaffen Menschen eine Plattform, die eigentlich keine Plattform verdient haben. Was wäre, wenn Terroristen ihre Anschläge künftig immer live filmen würden – und damit tausende Menschen schockieren und Nachahmer ermutigen? Wenn Blut und Schüsse in Videos künftig Alltag sind? Und Vergewaltigungen ganz ungeniert live übertragen werden könnten? All das ist bereits geschehen. Das Risiko in den Live-Videos liegt darin, dass „eine vorherige Freigabe oder Korrekturschleifen nicht mehr möglich sind“, bestätigt Beilharz. „Live ist eben live“. Und Facebook kann nichts dagegen tun. Zwar hat das soziale Netzwerk bereits ein dediziertes Team aufgebaut, das am Tag nichts anderes zu tun hat, als Live-Videos auf unerlaubte Inhalte zu überprüfen. Doch so ein Team kann nicht reichen, um Millionen Inhalte zu überprüfen, die in Windeseile die Timeline der Nutzer erobern.
Digitaler Voyeurismus
Und die User? Die werden zu freiwilligen oder unfreiwilligen Zusehern. Zu Zeugen von Taten. Live-Videos ziehen vor allem deswegen an, weil sie die ungefilterte Wahrheit zeigen. Und die kann eben auch blutig sein. Eine neue Art des Gaffens nannte das die Augsburger Allgemeine jüngst. Sie trifft damit genau den Kern des Problems. Die Leute schauen sich die Übertragungen an, egal wie blutig sie ist. Sie wollen die Realität so erleben, wie sie ist. Das macht den Reiz aus. Von Voyeurismus hat man ja schon viel gehört. Mit den Live-Videos wird dieser auf die Spitze getrieben.
Aber wie lässt sich das Problem lösen? Schwierig zu sagen. Facebook, Twitter und Co. müssen einmal gründlich darüber nachdenken, ob „live“ wirklich so sinnvoll ist, wie sie es propagieren. Wir brauchen keine Plattform, auf der Gewalt, Mord und Vergewaltigungen ungeniert gezeigt werden können. Wie wäre es mit der Idee, die Live-Videos zu verzögern? Facebook bzw. Facebooks Algorithmus hätte dann mehr Zeit, blutige und kriminelle Inhalte zu sperren. Das zumindest wäre dringend notwendig. Denn solche Videos wie aus Nizza, Paris oder Minnesota wollen wir nicht mehr sehen.
18 Gedanken zu „Live, viral und blutig“
Die Kommentare sind geschlossen.